JAHNZ E I T 24 AUSGAB E MAI 2022
Wand hängen, damit sie sehen, was sie heute für Möglich-keiten
haben. Und dass es wirklich gar keinen Grund gibt,
nicht jeden Tag Gas zu geben und mit vollem Elan hierher-zukommen.
Man bekommt immer wieder mit, dass hier und
da etwas fehlt und sich beschwert wird. Das ist etwas, das
mich wirklich auf die Palme bringen kann. Was unsere Nach-wuchsspieler
heute haben, hatten wir damals als Profimann-schaft
nicht mal annähernd. Die Jungs von damals haben mit
Leidenschaft dazu beigetragen, dass der Verein heute hier
ist. Wir sind damals am Baggersee laufen gewesen, haben
im Westbad geduscht und keinen Strom gehabt. Trotzdem
sind wir zum Spiel gekommen und haben gewonnen. Des-halb
darf man nicht aufhören, der Jugend auch zu erzählen,
wie gut sie es haben. Alles, was wir aufgebaut haben, hilft
uns nichts, wenn wir vergessen, woher wir kommen. Ent-scheidend
ist nicht ein Platz oder ein Gebäude alleine oder
neue Bälle. Entscheidend sind die Menschen und der Geist,
die hier sind.
In der Profimannschaft kennt der überwiegende Teil die al-ten
Zeiten maximal noch aus Erzählungen. Wie schaffst du
es, diesen Geist bei den Profis aufrecht zu erhalten?
Das ist eine schwierige Aufgabe. Wir haben Bilder im neu-en
Funktionsgebäude, die darauf hinweisen, es gibt auch
Erzählungen. Es gibt aber vor allem einen täglichen Ablauf,
dass den Jungs nicht alles abgenommen wird. Sie müssen
selbstständig sein und ein paar Sachen selbst erledigen. Es
ist wichtig auch bei der Rekrutierung von Spielern, dass wir
Typen herholen, die ähnliches durchgemacht haben oder wo
wir merken, dass sie mit beiden Beinen im Leben stehen und
nicht in einer anderen Blase leben. Dass ihnen nicht wichtig
ist, dass der Kulturbeutel von einer bestimmten Marke ist,
sondern dass es deutlich wichtigere Dinge gibt. Den Geist zu
bewahren ist eine große Aufgabe. Wichtig ist, dass sich auch
die Menschen hier nicht im Charakter verändern, denn ich
kann nichts einfordern, das ich nicht selbst vorlebe. Wir müs-sen
stolz darauf sein, dass wir die schlechten Zeiten über-wunden
haben und es bis hierhin geschafft haben.
Kommen wir zurück zur Aktualität: Was zeichnet den Cha-rakter
der diesjährigen Mannschaft speziell aus?
Bei vielen Gegnern werden wir immer noch als sehr unangeneh-me
Mannschaft wahrgenommen, die bis zum Ende kämpft. Das
haben wir nicht in jedem Spiel geschafft, das ist aber auch nor-mal.
Charakterlich ist die Mannschaft ähnlich zu den Teams der
vergangenen Jahre. In der schwierigen Phase hat die Mannschaft
gezeigt, dass sie wirklich eine Mannschaft ist und hat diese über-wunden.
Unsere drei Grundwerte Ambition, Bodenständigkeit
und Glaubwürdigkeit waren – wenn auch in unterschiedlicher
Ausprägung – zu jeder Zeit bei der Mannschaft zu sehen.
Beim Jahn geht es auch immer um Entwicklung. Wie stufst
du die Entwicklung der jüngeren Vergangenheit ein?
Obwohl die Ergebnisse in einer Phase nicht gestimmt haben,
haben wir es wieder geschafft, viele junge Spieler nochmal
auf ein anderes Level zu bringen. Viele sind interessant ge-worden
für andere Vereine, viele werden sicher auch leider
weitergehen. Da bin ich einerseits traurig, aber auch froh,
dass sich die Jungs entwickelt haben. Konni Faber und Carlo
Boukhalfa sind aus der Regionalliga gekommen und haben
hier viel gespielt, Sarpreet Singh ist hier aufgeblüht, Niklas
Beste spielt auf einer neuen Position eine starke Saison. Erik
Wekesser kam als Regionalliga-Stürmer und ist nun einer
der besten Linksverteidiger in der Liga. Über Scott Kenne-dy
wusste keiner etwas, als er zu uns kam, nun fährt er mit
Kanada zur Weltmeisterschaft. Jan Elvedi hat in der Schweiz
noch neben den Fußball gearbeitet, kam zu uns und hat eine
sehr schnelle und gute Entwicklung hingelegt. Da könnte
man noch viele weitere aufzählen. Das sind Punkte, die man
gerne vergisst, für mich sind diese aber wichtig. Auch fuß-ballerisch
haben wir uns gut entwickelt, haben attraktiver
gespielt als die letzten Jahre, haben flach von hinten her-ausgespielt,
wenn es möglich war.
Nun neigt sich die Saison dem Ende zu. Wie blickst du voraus?
Planungen für die neue Saison laufen auf Hochtouren. Es wird
wieder eine Herausforderung, eine Mannschaft zusammen-zustellen,
die in dieser Liga bestehen kann. Ein paar Jungs
sind ausgeliehen und müssen zurück, ein paar entscheiden
sich für etwas anderes. Es werden wieder Lücken entstehen,
die wir gemeinsam schließen müssen. Dann geht’s auf in Mis-sion
Impossible – Teil 6.
Was ist dir bei einem neuen Spieler besonders wichtig?
Nimmst du lieber den etwas weniger talentierten und er-fahrenen
Spieler, der charakterlich zu 100 Prozent passt
oder andersherum?
Ich sage immer, dass Charakter und Mentalität das Talent be-siegen.
Für mich ist wichtiger, dass der Spieler bereit ist, sich
einzubringen, ohne zuerst zu fragen, was er kriegt. Dass er be-reit
ist, für die Mannschaft zu arbeiten und sich jeden Tag voll
einzubringen. Talent ist nicht zu unterschätzen, das brauchst
du auch. Aber erst kommt die Arbeit, dann das Vergnügen. f r
Foto: Köglmeier
Foto: Gatzka