JAHNZ E I T 22 AUSGAB E MAI 2022
Wenn du heute in Sarajevo bist: Welche Gefühle kommen
bei dir hoch?
Jedes Mal, wenn ich dort bin, kribbelt es, aber es ist immer
weniger die Erinnerung an die Kriegszeiten. In der Zwischen-zeit
habe ich viele Sachen dort erlebt, die näher sind und die
man gerne in Erinnerung hat. Letztes Jahr war es schwieriger,
weil ich das erste Mal länger dort war, wo wir vor dem Krieg
gelebt haben. Da war es fast jeden Tag so, dass ich in die eine
Richtung geschaut, von wo wir angegriffen wurden, und dann
in die andere, wohin wir geflüchtet sind.
Aber Rachegefühle hattest du nie?
Nie. Das ist meiner Meinung nach eine Schwäche. Du zeigst,
dass du Sachen nicht verarbeiten kannst und dass du nicht
verzeihen kannst. Es ist eine Stärke, wenn jemand einen
Fehler macht und um Verzeihung bittet. Aber es ist noch
größer, wenn der andere verzeihen kann. Und da will ich
nicht klein sein.
In der Kriegszeit war der Ball Mersad Selimbegovic' Freund.
Einmal verlief er sich, als die Familie bei der Tante von Mer-sads
Mutter war, kam aber wieder gut zurück. Als seine Mutter
nach der Suche nach ihm am nächsten Tag zurück kam, hörte
sie den Ball gegen die Wand prallen. Damit wusste sie: Mersad
geht es gut. In einem Verein hat er auch nach dem Krieg aber
zunächst nicht gespielt. Mit 15, bei einem Schulturnier, wur-de
er angesprochen, wo er Fußball spiele. Seine Antwort: Auf
dem Parkplatz. Dann schloss er sich seinem ersten Verein an,
eineinhalb Jahre später wechselte er zu FK Zeljeznicar Sara-jevo,
dem größten Verein in Sarajevo. Die Fußballkarriere von
Mersad Selimbegovic begann.
Woher kam die Liebe zum Fußball?
Das weiß ich nicht genau. Es ist bei vielen Jungs wahrschein-lich
schwer zu erklären, warum sie mit den ersten Schritten
schon einem Ball hinterherlaufen. Ich habe früher schon im
Fernsehen Fußball geschaut, unter anderem Roberto Baggio.
Und damit war für mich nur noch eine Sache wichtig: der Ball.
Wer mit 15 das erste Mal im Verein Fußball spielt, hat doch
kaum eine Möglichkeit, später Profi zu werden…
Ich war anscheinend sehr talentiert (lacht). Ich habe als B-Ju-gend-
Spieler schon in der A-Jugend gespielt, als A-Jugend-licher
in der ersten Mannschaft. Der Trainer in Bosnien, der
mich von der A-Jugend mit zu den Profis genommen hat, hat
später einmal gesagt, dass es interessant wäre, mich zu erle-ben,
wenn ich eine normale Fußballausbildung gehabt hätte.
Ich hatte sicher ein gewisses Talent, war aber vor allem auch
sehr fleißig und habe dadurch vieles aufgeholt. Irgendwo
gab es dann auch Grenzen, aber ich bin stolz darauf, was ich
daraus gemacht habe. Leider musste ich meine Karriere früh
beenden. Aber alles hat seinen Grund. Sicher wäre ich heu-te
nicht als Trainer hier ohne die Verletzung und das frühe
Karriereende. Ich nehme es immer, wie es kommt und ver-suche,
immer das Beste daraus zu machen. Ich bin zufrieden
mit meiner Karriere als Fußballer. Ich habe zwar nicht so viele
Tore geschossen, aber ich glaube es waren sehr viele gute
Zweikämpfe dabei (lacht).
Was war entscheidend dafür, dass du es geschafft hast?
Ich habe nie gedacht, dass ich ein Innenverteidiger werde.
Ich konnte dribbeln, gut schießen, also alles, was du auf
dem Bolzplatz lernst. Ich hatte eine
sehr gute Ausdauer und vor keinem
Zweikampf Angst. Ich habe meine
Grenzen immer wieder nach oben
verschoben. Trotz allem, was ich
vom Bolzplatz mitgebracht habe,
war mein Wille sicher der entschei-dende
Faktor. Ich kenne viele, die
viel besser waren in der Jugend, die
es aber nicht geschafft haben.
Wie war der bosnische Fußball da-mals
aufgestellt, als du begonnen
hast?
Es war für mich das Beste, weil
wir keinen Vergleich hatten. Fuß-ball
war nach dem Krieg für viele
ein Ausweg in Freude. Alles war
sehr euphorisiert. Als in Sarajevo
Stadtderby war, war schon die gan-ze
Woche davor alles in blau oder
rot. Nach dem Krieg waren die Sta-dien
schnell voll, obwohl es eine
schlechte Infrastruktur gab. Das
war cool.
Große Freude: In seiner ersten Saison beim SSV Jahn schaffte Mersad Selimbegovic 2007 mit der Mannschaft
den Aufstieg aus der Bayernliga in die Regionalliga (Foto: Jahn Archiv).