JAHNZ E I T 21 AUSGAB E MAI 2022
Dort waren wir bei der Tante meiner Mama. Du bist immer
Flüchtling, aber es geht dir mal besser, mal schlechter. Die
Zeit bei der Tante meiner Mama war gut, dort war der Krieg in
den ersten Monaten nicht präsent, es gab genug zu essen, es
gab Strom. Nach sechs Monaten kam der Krieg dann auch dort
an. 1995 war Kriegsende, dann sind wir zurück nach Sarajevo
und haben uns nach dem Krieg dort wieder fest angesiedelt.
Wie war speziell die Anfangszeit des Krieges, das Überle-ben
auf der Flucht im Wald, die Suche nach Essen?
Wenn ich meinen jüngeren Sohn heute anschaue, der ein
Jahr älter ist als ich zu Kriegsbeginn, frage ich mich, ob ich
das überhaupt erzählen kann, ob mir das jemand glaubt. Ist
so ein Kind in der Lage dazu? Aber Krieg macht dich zu einem
anderen Menschen, du wirst als Kind schnell zu einem Er-wachsenen.
Wir haben immer wieder nach Essen gesucht,
sind vier Stunden in die eine und dann vier Stunden in die
„Krieg ist kein Computerspiel, wo du stirbst
und wieder aufstehst. Im Krieg stirbst du
nur einmal.“
andere Richtung gelaufen. Das Problem war, dass es nicht
viele Felder waren und wir nicht die einzigen waren, die nach
Essen gesucht haben. Wenn man eine Kartoffel in der Größe
eine Murmel gefunden hat, war es wie ein Sechser im Lotto.
Später haben die NATO und die EU dann Essenspakete abge-worfen.
Dann galt es, schnell dort zu sein und sich etwas zu
schnappen. Das war für mich irgendwann ganz normal.
Gibt es in all der Zeit auch mal Momente, in denen man sich
Gedanken darüber macht, wie es eigentlich weitergehen
soll, ob alle überleben?
Irgendwann ist ein Zustand, der nicht normal sein sollte,
ganz normal. Aber klar denkt man auch an die Zukunft. Ich
hatte einen Ball, habe mir ein Tor selbst gemacht. Ich habe
auf das Tor geschossen und mir ausgemalt, dass ich irgend-wann
Fußballspieler werde. Irgendwann akzeptierst du die
Situation und versuchst, normal zu agieren. Natürlich gab
es auch Momente, in denen wir uns ausgemalt haben: Wenn
wir den Krieg überleben, machen wir das oder das. Es ist
wichtig, dass man in diesen Momenten auch über etwas
Positives redet.
Auch den Spaß habt ihr euch nicht nehmen lassen…
Genau. Wir haben abends auch gesungen, sind beisammen-gesessen.
Man hat sich gefreut, dass man noch am Leben ist.
Deine Familie hat den Krieg komplett überlebt. Würdest du
das deshalb trotz der ganzen Erlebnisse als Glück bezeich-nen?
Ja. Es gab nicht viele Familien, in denen keiner zumindest
verwundet war. Es gab auch viele, die überlebt haben, aber
zum Beispiel ein Körperteil verloren haben und damit Folgen
für ihr ganzes Leben hatten. Wir sind zum Glück davon ver-schont
geblieben.
Einmal hast du auch für lange Zeit deinen Vater nicht mehr
gesehen.
Das waren einmal fünf Monate. Als wir dann bei der Tante
meiner Mama waren, war ich gerade draußen spielen. Ein an-derer
Junge kam und meinte, mein Vater sei da. Ich habe ihm
nicht geglaubt. Als ich meinen Vater dann tatsächlich gese-hen
habe, habe ich stundenlang einfach nur geweint.
Dadurch lernt man Familie sicher nochmals ganz anders zu
schätzen, wenn man seinen Vater lange nicht sieht, nicht
weiß, ober er überhaupt noch lebt.
Ja, das prägt bis heute. Auch wenn ich mal spät nach Hause
komme, gehe ich noch zu meinen Jungs ins Zimmer, wenn
sie noch nicht eingeschlafen sind. Nur damit wir uns kurz ge-sehen
haben.
Welche Lehren hast du aus der Kriegszeit gezogen?
Das sind viele. Zum Beispiel, dass die Menschen nie ver-stehen
werden, dass die Konflikte auf der ganzen Welt zu
vermeiden sind. Die Folgen sind so groß, dass der Mensch
zum schlimmsten Tier wird. Was Menschen in der Lage sind
zu machen und wie schnell sich die Massen dafür bereit
erklären, ist sehr erstaunlich. Das wird in jeder Gesellschaft
sehr unterschätzt. Für viele ist Krieg auch nicht wirklich zu
fassen. Aber man muss wissen, dass Krieg kein Computer-spiel
ist, wo du stirbst und wieder aufstehst. Im Krieg stirbst
du nur einmal. Eine weitere Erkenntnis ist leider, dass die
Menschen immer nach Unterschieden suchen, statt die
vielen Gemeinsamkeiten zu nutzen. Ich habe Familien er-lebt,
die lange Nachbarn waren und beieinander gegessen
haben, gemeinsam etwas unternommen haben, und plötz-lich
haben sie sich gegenseitig etwas angetan. Das ist wie
in einem Horrorfilm.